Bereits am 06.05.2019 wurden die Schüler*innen an der Hilde-Domin-Schule auf den Exkursionstag vorbereitet. Die Mitarbeitenden Lena Korn und Dominik Sulz der Landeszentrale für politische Bildung sensibilisierten die Schüler*innen zunächst für Stereotype und Vorurteile und verdeutlichten anschließend historische Grundlagen. Dadurch waren die Klassen bereits thematisch vorbereitet, als dann am 22.05.2019 der zweite und dritte Teil folgte.
Um ca. 8 Uhr startete der Reisebus von Herrenberg nach Grafeneck. In der Gedenkstätte angekommen wurden die Schüler*innen bereits erwartet. Freundlich begrüßte Heinz F. die Gruppe und hieß alle Willkommen. Er ist Bewohner der Einrichtung für Menschen mit Behinderung, die nach dem Krieg wieder von der Samariterstiftung eingerichtet wurde, nachdem der Ort während des Nationalsozialismus zum Massenmord an behinderten Menschen zu Beginn der Euthanasie genutzt wurde Er erklärte, bereits seit 31 Jahren in Grafeneck zu wohnen, dadurch habe er hier viel erlebt und kenne alle Hintergründe.
Es wurden zwei klassenübergreifende Gruppen gebildet. Der Workshop startete mit einem Vortrag von Kathrin Bauer und Daniel Hildwein, wissenschaftliche Mitarbeitende der Gedenkstätte Grafeneck. Über Grafeneck erfuhren die Teilnehmer*innen, dass die evangelische Samariterstiftung das Schloss 1928 in ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung umgewandelt hatte. Im Oktober 1939, kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, wurde Grafeneck für „Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt. Im Rahmen der Aktion T4 (benannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4) kam es von Januar bis Dezember 1940 zur Ermordung von über 10.600 Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen. Dies stellt den Beginn des „institutionalisierten Massenmordes“ in der NS-Zeit dar und wurde von den Nationalsozialisten euphemistisch als Euthanasie (griechisch: der gute Tod) bezeichnet.
Man könnte meinen, Grafeneck wäre heute nur ein Gedenkort für dieses grausame Verbrechen, aber dieser Ort bietet mehr. Nach der Beendigung der Morde im Winter 1940/41 wurde Grafeneck zunächst von der französischen Besatzungsbehörde genutzt und 1946/47 wieder an die Samariterstiftung zurückgegeben und ist heute Begegnungsstätte für Menschen mit und ohne Behinderung und Zuhause für die ca. 60 Bewohner*innen der Einrichtung geworden, die die Vergangenheit kennen. Besonders ist, dass ein Ort an dem so viel Leid geschehen ist, heute mit voller Lebensfreude erfüllt ist.
Um die damalige Situation besser zu begreifen, setzten sich die Schüler*innen im Workshop jeweils mit zwei Täterbiografien und zwei Opferbiografien auseinander, die sie im Anschluss ihren Klassenkameraden präsentierten. Durch diese Methode konnte jeder erfahren, welche Hintergründe die Täter zu dem Handeln veranlasst haben und warum die Opfer ermordet wurden. Die Konfrontation mit der Vergangenheit war nicht einfach und dennoch notwendig, um daraus zu lernen. Der Umgang mit der Erinnerung war ein weiterer Themenpunkt, mit dem man sich im Workshop auseinandersetzte.
Die ehemalige Gaskammer wurde nach dem Krieg von der Samariterstiftung abgebaut und das Geschehene wurde jahrelang nicht thematisiert. Heute ist es bedeutend, die Vergangenheit nicht zu verschweigen, sondern zu verstehen. Bei einer anschließenden Führung über das Gelände kamen die Klassen an den Platz der Erinnerung, in das sogenannte Dokumentationszentrum, wo eine Ausstellung, eine Bibliothek und ein Archiv untergebracht sind. Gleich beim Betreten des Gebäudes fällt ein an der Fensterfront angebrachtes Regal mit liegenden Tonfiguren auf. Der Künstler Jochen Mayder verdeutlicht mit diesem „Kunst-Projekt 10.654“ die Zahl der bisher dokumentierten Morde sehr eindrücklich und berührend. Bisher hat er rund 5.000 Terrakotta-Figuren hergestellt und er wird Weitere produzieren, bis er eine für jeden der 10.654 ermordeten Menschen erschaffen hat. Die Tonfiguren liegen in den Regalen wie die Opfer in den Gaskammern. Den Schüler*innen wurde erklärt, dass sich Besucher frei fühlen sollen, einen der Tonmenschen mitzunehmen, um sie aus ihrer Anonymität zu befreien und ein Zeichen zu setzen. Dadurch soll einem bewusst werden, dass es sich bei den Opfern um Menschen handelt und nicht nur eine Zahl dahintersteht. Der ehemalige Standort der Gaskammer ist heute durch eine Gedenktafel und Backsteine am rechten Ende gekennzeichnet, mehr ist nicht übriggeblieben. Desweitern gedenkt ein Friedhof an die ermordeten Opfer. Die übrig gebliebenen Urnen und die gefundene Asche sind in einem großen Grab beigesetzt. Ein Namensbuch am Eingang erinnert an alle dokumentierten Opfer. Alle Schüler*innen begannen den eigenen Namen nachzuschlagen und bei einigen konnten sich tatsächlich die gleichen Nachnamen unter den Ermordeten finden.
Nach der Einführung gab es eine Mittagspause mit reichlich Essen, aber auch sehr viel Gesprächsstoff, da der Workshop sehr eindrücklich war.
Anschließend ging es in einem dritten Teil zur Nachbereitung um das aktuelle Thema der Diskriminierung. Geleitet wurde dieser Teil von den Referenten der Landeszentrale für politische Bildung, Mitja Bleckmann und Paul Junker. Was Diskriminierung ist, darunter kann man sich grob etwas vorstellen Doch wo fängt sie an und wo geht sie zu weit? Diese Frage bot Platz für kontroverse Diskussionen. Die Schüler*innen ordneten Fallbeispiele auf einer Diskriminierungsskala von eins bis zehn ein. Bleckmann erklärte, dass Diskriminierung immer aus der Sichtweise Betroffener betrachtet werden muss. Auch wenn in unseren Augen etwas gut gemeint ist, wie einen Rollstuhlfahrer zu fragen, ob er Hilfe braucht beim Überqueren der Straße, oder das Interesse eine Person danach zu fragen, aus welchem Land sie kommt, kann es von Betroffenen als Diskriminierung empfunden werden. Es sei einfach wichtig, sich bewusst zu machen, welche Dinge man zu welchen Personen sagen kann und wo man lieber ein zweites Mal überlegt. Negative Diskriminierung hingegen entsteht durch Vorurteile, diese sind in der Gesellschaft häufig verankert. Daher ist es bedeutsam, nicht im Schubladendenken zu bleiben, sondern die jeweiligen Schubladen auch immer wieder zu öffnen, um Vorurteile zu revidieren.
Aus dem Workshop konnte man ebenfalls lernen wie man sich verhalten kann, wenn man Diskriminierung mitbekommt, die sogenannte Zivil-Courage. Das Ziel hierbei ist, die Situation der Diskriminierung aufzulösen. Das kann durch verschiedene Wege geschehen, die ebenfalls durch die Schüler*innen verglichen und besprochen wurden. Eine Möglichkeit ist es Irritationen zu schaffen. Das gelingt, indem man unerwartete Fragen stellt, zum Beispiel woher sich die Person das Recht nimmt zu urteilen. Ganz nach dem Motto „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg´ auch keinem anderen zu.“ Man kann auch verbal eingreifen, durch direkte Ansprache des Betroffenen oder der Täter. Um die eigene Sicherheit zu bewahren, ist es des Weiteren von Bedeutung, andere Menschen aufzufordern mitzuhelfen, selbst die Stimme zu erheben und aktiv zu werden. Häufig genügt es auch, die Diskriminierenden zu ignorieren und die Opfer zu unterstützen, indem man mit ihnen ins Gespräch kommt.
Zusammenfassend war es ein Projekt, durch das die Schüler*innen viel gelernt haben, in einer Feedbackrunde sprach jeder das aus, was ihm wichtig war. Amrei aus der LS-Klasse betonte den Roten Faden, der gut durch den Projekttag führte und dadurch die Thematik sehr einleuchtend gemacht hat. Sahan empfand ihn als kreativ gestaltet und dadurch besonders interessant. Didem betonte viel Neues gelernt zu haben. Lernen aus der Vergangenheit, um es in der Gegenwart besser zu machen: Das konnten alle mitnehmen. Stefanie Seibert-Sproten und Monika Rabenhorst ist es „ein großes Anliegen mit Schüler*innen die Gedenkstätte Grafeneck zu besuchen, da ein authentischer Ort oftmals bei Schüler*innen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte in Gang setzt“.