Scora
    

Gedichte schreiben ist wie in den Spiegel schauen…

„Schreib
das Wort Gipfel
auf ein Blatt Papier
leg es
in die Zimmermitte
stell dich drauf
und schließ die Augen“

(Walle Sayer)

Einen ähnlichen Impuls gab Schriftsteller Walle Sayer den Schüler*innen der VABO-Klassen (Vorbereitungsklassen für Jugendliche ohne Deutschkenntnisse) der Hilde-Domin-Schule Herrenberg im Rahmen einer Poesiestunde. Die Schüler*innen kommen aus mindestens neun verschiedenen Ländern, überwiegend aus der Ukraine. Das bedeutet ein buntes Gemisch an Sprachen, Kulturen, Erfahrungen, Alter, Schulbildung usw.. Eines haben alle gemeinsam: Sie stehen am Anfang, die deutsche Sprache zu erlernen. Walle Sayer ließ die jungen Menschen zuerst unterschiedliche Gedichte berühmter Dichter*innen aus ihren Herkunftsländern in ihrer Muttersprache vorlesen. Es war ein Genuss, die Melodien der verschiedenen Sprachen zu hören.

Im Anschluss wurden die Schüler*innen aufgefordert, sich ein Wort aus der deutschen Sprache zu suchen, das ihnen besonders gefällt oder ein Wort aus einem der vorgetragenen Gedichte. Anstatt dieses Wort in die Zimmermitte zu legen – wie Walle Sayer es in seinem Gedicht „Schreib“ (siehe oben) vorschlägt, machten sich die Jugendlichen daran, zu erklären, warum ihnen das Wort gefällt und was sie damit verbinden. Große Worte wie „Freiheit“, „Frieden“ oder „Leben“ wurden mit Lebenserfahrung gefüllt, aber auch vermeintlich kleine Worte wie „Lachen“, „Dummkopf“ oder der Name „Natasch“ bekamen Hintergrund und Gewicht. Diese so entstandenen Gedichtmosaiksteinchen wurden von Walle Sayer zu einem Klassenmosaikgedicht zusammengefügt, das sehr bewegend zu lesen ist.

Neugierig geworden auf den Menschen und Dichter Walle Sayer, stellten die Schüler*innen zum Abschluss eine ganze Reihe Fragen, welche Walle Sayer sehr offen und interessant beantwortete.Auf die Frage, was er mit seinen Gedichten erklären wolle, erläuterte Walle Sayer, dass er beim Schreiben wissen wolle, was in ihm drin sei. Ein Gedicht zu schreiben, sei wie in einen Spiegel zu schauen, man erfahre etwas über sich selbst. Wenn es ihm gelungen sei, ein Gedicht vollständig fertig zu stellen, sei das ein Glückgefühl und man fühle sich eine Weile „unverwundbar“. Wichtig für seine Gedichte sei immer das Leben an sich, die Menschen und ihre Schicksale, die Vergangenheit, eben der normale Alltag…, erzählte Walle Sayer. So endeten die Poesiestunden des ersten Projekttages.

Am zweiten Projekttag werden den AVdual-Klassen (Arbeitsvorbereitung dual) Workshops angeboten, in denen die Schüler*innen unter Walle Sayers Anleitung aus ihren Lieblingswörtern kleine Gedichte formulieren.

Die Organisatorinnen des Gedichte-Projektes, Sibylle Schorpp, Christine Kegreiß und Nadja Großmann, waren sehr zufrieden und freuen sich, wenn eine Auswahl der Gedichte, nach deren Verfeinerung im Deutschunterricht, bei der Jahresabschlussfeier vorgetragen werden können.