„Gedichte beginnen eigentlich nicht morgens um sieben, indem man sich an den Schreibtisch setzt und drauflos schreibt“, erklärte Walle Sayer 30 Schülern und Schülerinnen der neuen Schulart AVdual an der Hilde-Domin-Schule. Sondern Gedichte beginnen irgendwann, indem man notiert, was einem auffällt. Sayer zeigte seine handgeschriebenen Notizen in einem ledergebundenen Notizbuch und führte den langen Weg aus, bis ein Gedicht so perfekt ist, dass es in die Auswahl für einen neuen Gedichtband aufgenommen wird.
„Man kann durch Gedichte in eine Welt schauen, die sich dahinter entfaltet“, so Sayer und das erlebten die Schüler und Schülerinnen anhand der ausgewählten Gedichte. Viel Biographisches steckte in diesen Zeilen, in denen es um Kindheit und den Blickwinkel von Sayers Enkeltochter ging oder um sein Hobby Fußball oder um Orte, die ihn geprägt haben oder eben auch über besondere Menschen wie seinen Vater.
Das gab Anlass zu Fragen der Schüler und Schülerinnen, die Sayer geduldig und untermalt mit anschaulichen Beispielen beantwortete. Die Schüler aus dem Kurs AVdual, einem neuen ganztägigen Bildungsgang für Jugendliche in einer dualen Ausbildungsvorbereitung, die im Anschluss an den Besuch der allgemeinbildenden Schule Unterstützungsbedarf beim Übergang von der Schule in eine Ausbildung haben, hörten interessiert zu.
In den anschließenden Workshops begannen die Schüler und Schülerinnen zwar nicht morgens um sieben, sondern etwas später, dann doch mit dem Schreiben von Gedichten. Manche legten gleich los und brachten ihre Ideen auf das Blatt, andere ließen sich von Sayer dazu anregen, über die vergangene Corona-Zeit nachzudenken. Was hat sich verändert? Was blieb gleich? Wie blickst du auf das kommende Jahr?... waren einige der Leitfragen.
Den Abschluss dieses außergewöhnlichen Schultages bildete eine sehr bewegende Lesung der so entstandenen Gedichte durch Sayer.
Für das Organisationsteam dieses Projektes, Sibylle Schorpp, Christine Kegreiß und Nadja Großmann, war es wieder einmal berührend und beeindruckend, wie offen, mutig und kreativ diese Jugendlichen ihre Gedanken und Gefühle in ihren Gedichten zum Ausdruck brachten.
Es wurden „besondere Augenblicke aufgefangen, die aufscheinen“ wie Sayer die Aufgabe eines Gedichtes zuvor beschrieben hatte.
Eine kleine Kostprobe aus den Workshops bietet das Gedicht „Mein Profilbild“ von Esma Bogazköy
Mein Profilbild
Ich mag die alten Häuser am Herrenberger Marktplatz
besonders im Sommer,
wenn die Sonne strahlt,
und die Katzen neben den Tischen laufen.
Ich sitze auf der Bank
und hoffe, dass die Maskenpflicht bald vorbei ist,
damit jeder
wieder einen Ausdruck in den Gesichtern sieht.
Wenn du mich finden willst,
siehst du mich auf der Bank.
Ich lese ein Buch über Lebensgeschichten
bis ich wieder in den Gesichtern lesen kann.
Esma Bogazköy